„Build Shit That Matters!“ Nachhaltig Gründen Im Ruhrgebiet

Von Dieter Welfonder

tl;dnr: Das Ruhrgebiet ist permanent im Umbruch. Die zahlreichen Baustellen bieten innovativen Startups Gelegenheit, soziale und ökologische Problemlöser zu werden. Dann müssen sie jedoch unter schwierigen Rahmenbedingungen arbeiten. Erst langsam bilden sich im Ruhrgebiet Infrastruktur und Netzwerke aus, die Sozialunternehmen fördern und begleiten. Auf der A40 ist immer Stau.

Erste Binsenweisheit: im Ruhrgebiet ist immer was los; in den letzten 50 Jahren ging es dabei meist irgendwie um Wandel.

Weg von der Kohle- und Stahlindustrie, weg von der Dreckschleuder der Nation, weg vom Schmuddelimage. Das hat in vielen Städten einen positiven Ruck ausgelöst, zur Entwicklung der dichtesten Hochschullandschaft in ganz Europa beigetragen, sowie der Ansiedlung herausragender Kompetenzzentren für Hochtechnologie. Und nicht zuletzt zu einem seit kurzem wieder deutlich erkennbaren regionalen Gründungsgeist.

Zweite Binsenweisheit: Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass der Veränderungsdruck in den nächsten Jahrzehnten nur noch größer wird. Die dringendsten Baustellen der absehbaren Zukunft heißen wohl: hin zur Digitalisierung der Wertschöpfungskette für Unternehmen, hin zur Bewältigung sozialer Brennpunkte für Städte und Gemeinden, und hin zur Anpassung an die Folgen des globalen Klimawandels für die Bevölkerung. Die Baustellen der nahen Zukunft sind mehr aufgedrängt als selbst gewählt.

Dabei erhöht sich nicht nur zunehmend der Innovationsdruck, auch hinsichtlich der Veränderungsdynamik rechnen viele Experten und Gastkommentatoren mit einer Überforderung der beteiligten Akteure. Wer die letzten Jahre über mit offenen Augen und Ohren die sozialen Umwälzungen in Europa verfolgt hat, ahnt: es knirscht an allen Ecken und Enden.

Gesucht: innovative und skalierbare Problemlösungen für „alle“

Öko-soziale nachhaltige Gründungen
Gier fressen Werte auf: viele Startups jagen lieber Einhörner statt Probleme zu lösen

Dynamische Rahmenbedingungen wie diese sind eigentlich ideale Keimzellen für innovative Change Maker, insbesondere agile Startups, die mit flexiblem Out of the Box-Denken und kreativen Geschäftsideen schnell neu entstehende Märkte erobern können.

Dritte Binsenweisheit: Die Zeit wäre also überreif für Startups, die nicht nur profitorientiert agieren, sondern auch als öko-soziale Problemlöser auftreten wollen – und zwar über ihr Geschäftsmodell.

Dafür, dass sich nicht mehr nur der Dritte Sektor (Zivilgesellschaft, Vereine, NGOs, etc.) öko-sozialer Probleme annimmt, gibt es bereits mehr als eine Handvoll herausragender Beispiele im In- und Ausland.

In New York etwa, dem Ruhrgebiet der USA, wurden vor einigen Jahren „Buy One / Give One“-Geschäftsmodelle populär, z.B. für Brillen (Warby Parker) und Schuhe (Tom’s). Westliche Konsum- und Lebensstile wurden so mit sozialem Engagement verknüpft. Nicht als reine Kosmetik („Green Washing“) oder periphere Corporate Social Responsibility-Aktivität, sondern über das Geschäftsmodell.

Förderpreis für Sozialunternehmen
Quelle: Google Inc.

Auch in Deutschland gibt es zahlreiche innovative soziale Ideen: das Google Impact Challenge Leuchtturmprojekt App Camps zum Beispiel vermittelt Schülern ab Klasse 7 Programmiergrundlagen (Baustelle: digitale Transformation und Zugang zu relevanten Bildungsangeboten).

App Camps firmiert dafür nicht als Verein, der von Spenden abhängig wäre, sondern als gemeinnützige UG – mit unternehmerischer Gewinnerzielungsabsicht, aber ohne Fokus auf Profitmaximierung.

Innovative öko-soziale Unternehmen schaffen es so, nachhaltig wirtschaftliche Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu finden, etwa den Klimawandel, den demographischen Wandel, oder sie ermöglichen den Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Partizipation.

Sie tun dies unternehmerisch, mit innovativen und skalierbaren Lösungen, die ökologische oder soziale Probleme mindern, statt die Unternehmensaktivitäten auf eine schnelle Rendite für Investoren auszurichten. Überschüsse werden bei Sozialunternehmen vorrangig für die Verwirklichung sozialer Ziele reinvestiert, und in verantwortlicher und transparenter Weise verwaltet.

Wird wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt so verbunden, spricht man gerne auch von „gemeinsamer Wertschöpfung“ („Shared Value Creation“). Und die Hoffnung stirbt zuletzt.

Der lange Hebel ist das Ökosystem

Startup Ökosysteme Coworking Ruhrgebiet
Inkubatoren, Acceleratoren und Coworking Hubs sind wichtige Säulen der Startup-Ökosysteme

In der Tat kann man feststellen, dass die genannten Probleme bei der Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels zunehmend erkannt und angepackt werden.

Neue Finanzierungsinstrumente, speziell für die digitale Transformation, und relevante Aus- und Weiterbildungsprogramme zählen dabei zu den klassischen „üblichen Verdächtigen“.

Isoliert betrachtet bleiben sie Einzelmaßnahmen. Und es ist auch nicht nur das kreative Potenzial der Gründer, das eine nachhaltige Startup-Idee in Zeiten des ständigen Wandels erfolgreich macht.

Vielmehr bedarf es zunehmend spezieller Startup-Ökosysteme, die Gründerszenen umgeben und Schwung verleihen, und somit dafür sorgen, dass innovative Gründungen wachsen können.

Dabei sind Organisationen der Sozialwirtschaft gegenüber herkömmlichen Unternehmen im Wettbewerb ohnehin vielfach benachteiligt.

Die größten Hürden sind dabei:

  • fehlende Bildungsangebote für Sozialunternehmer
  • der mangelhafter Zugang zum Finanz- und Kapitalmarkt
  • eine ausbaufähige Vernetzung und Kooperation der Akteure

Studiengänge mit Schwerpunkt Social Entrepreneurship, wie man sie etwa aus dem anglo-amerikanischen Raum kennt, genießen in Deutschland noch Exotenstatus.

Auch Ausbildungsangebote, die eine konsequente Werteorientierung erkennen lassen, oder aktuelle Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen, sind im Ruhrgebiet rar. Die nächsten Angebote finden sich mit sehr unterschiedlichen Schwerpunkten an der FH Dortmund, der Hochschule Rhein-Waal, und der Hochschule Bochum.

Hoffnung gibt es – wenn schon nicht bei der Wertevermittlung – dann doch ausgerechnet im Bereich Finanzierung.

Impact Investing“ liegt im Trend, und es wurden zahlreiche neue Investitionsmöglichkeiten für Sozialunternehmer eingerichtet, etwa der Europäische Fonds für soziales Unternehmertum.

Dennoch übersteigt die Nachfrage oft noch das Angebot. Viele Fördermöglichkeiten sind unbekannt oder intransparent. Umso wichtiger ist es, im Gründungsprozess durch erfahrene Partner unterstützt und begleitet zu werden. Dies passiert häufig über Förderprogramme in Inkubatoren oder Acceleratoren.

sozial gründen im Social Impact Lab Duisburg
Quelle: Social Impact Lab Duisburg

Seit kurzem haben ausgerechnet im Duisburger Schimanski-Stadtteil Ruhrort Gründer, Gründungswillige und unternehmerisch interessierte Weltverbesserer mit dem Social Impact Lab hier eine neue Anlaufstelle.

Neben Standorten in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Potsdam und Leipzig ist die Social-Impact Idee damit endlich auch im Ruhrgebiet angekommen.

Am Stammsitz und mit Unterstützung des 1756 gegründeten Haniel-Konzerns möchte Dirk Sander, Standortleiter des Duisburger Social Impact Labs, den Inkubator zu einem Hotspot für soziale Innovation in der Region machen: „Wir wollen Veränderung bewirken und alle jene unterstützen, die unsere Gesellschaft positiv verändern wollen.“

Zum ersten Jahrgang des Inkubators zählen innovative soziale Startups wie Beeming Box, die mit gesunder Ernährung Kinderarmut bekämpfen, oder das multinationale Team von helpU, die durch ein standortbasiertes Matching-System Geflüchtete und Helfer besser vernetzen wollen.

Und so rollt das Ruhrgebiet gemächlich Richtung Social Entrepreneurship-Metropole.

Eigensinn und Gemeinnutz als Gründungsmotoren

Gründen als Problemlösen
Gründer aus den Generationen Y und Z sind zunehmend auf Sinnsuche

„Build Shit That Matters!“

Auf Startup-Events wird Gründern diese harsche Wahrheit von Mentoren und erfahrenen Seriengründern gerne ins Gesicht geblafft. Und es lohnt sich, sie als Mahnung und Warnung gerahmt in die vielen neuen Coworking-Spaces im Ruhrgebiet zu hängen.

Beratungsresistente Startupper, die von der eigenen Idee übertrieben begeistert sind, oder die aus egomanischer Gründer-Blindheit in das Startup-Abenteuer aufbrechen, riskieren, am Erfolg vorbei zu starten.

„Build Shit That Matters!“ bedeutet zunehmend auch: denkt bei euren Startups an mehr als nur ans Geldverdienen und Selbstverwirklichung.

Die vielen ökologischen und sozialen Problemfelder, die dringend skalierbare und wirtschaftlich tragfähige, also unternehmerische Lösungen suchen, sind ein Sprungbrett für innovative nachhaltige Unternehmen. Gerade im Ruhrgebiet, bei kurzen Wegen zum Business Case.

Letzte Binsenweisheit: Bis zu einer nachhaltigen Transformation der Startup-Szene bleibt natürlich noch viel zu tun. Bei Interesse an der sozialunternehmerischen Idee sollte der erste Schritt dabei stets die Kontaktaufnahme mit einem der gut vernetzten Social Business-Akteure aus der Region sein. Mit den erfreulichen Entwicklungen der letzten Monate ist dieser Weg nun ein Stück kürzer geworden.

Ortskundigen wird empfohlen, die A40 wochentags weiträumig zu umfahren.

Weitergehende Informationen für Social Business-Gründer aus der Region sind darüber hinaus nur einen Klick entfernt: eine Übersicht der wichtigsten Förder- und Finanzierungsmöglichkeiten für nachhaltige Gründer gibt es im zweiten Teil der Artikel-Serie.


Dieter Welfonder
Dieter Welfonder (Foto: privat)

Dieter Welfonder (lean|green|startup, XING) ist Inhaber der beta|ideas agentur für innovation und zukunftsfähigkeit und beta|rank agentur für digitales marketing, sowie Lehrbeauftragter für Innovation und Nachhaltigkeit. Er leitet u.a. Seminare zum Thema „Business Model Generation“ für nachhaltige Startups an der Universität Duisburg-Essen.

Als Coach und  Mentor unterstützt er bei den Gründungswettbewerben The Venture und Start2Grow Gründerteams u.a. bei der Entwicklung der Geschäftsmodelle und digitaler Marketingstrategien.

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